„Ich gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge“, sagt Sigrid Ansorg. „Man hängt an dem, was man aufgebaut hat, an den Menschen – dieser Vielfalt der Arbeit.“ Als sie ihre Nachfolgerin Isabelle Mühr kennenlernte, habe sie aber gleich gewusst, dass sie gut ins Team passen würde. „Da konnte ich loslassen.“ Hinter Sigrid Ansorg liegen fast drei Jahrzehnte intensiver Jugendarbeit. Es ist 29 Jahre her, dass sie sich beim Jugendgemeinschaftswerk der Diakonie in den thüringischen Städten Gotha und Eisenach bewarb. Sie bekam die Stelle und begann mit aufsuchender Arbeit in Heimen bei Spätaussiedlern und -aussiedlerinnen aus der ehemaligen Sowjetunion. An sie richtete sich damals die Projektarbeit des Jugendgemeinschaftswerks, Vorläufer der Jugendmigrationsdienste. Zielgruppe waren wie heute beim JMD Jugendliche und junge Menschen im Alter von 12 bis 27 Jahren.
Von aufsuchender Arbeit zu fest etablierter Jugendberatung
Zunächst nutzten sie Räume der evangelischen Jugend, um mit Jugendlichen zu arbeiten. In den folgenden Jahren entwickelte sich aus dem Jugendgemeinschaftswerk der JMD Gotha/Eisenach mit eigenen Büro- und Beratungsräumen. „Sprechstunden wurden eingerichtet und Freizeitangebote geschaffen“, sagt Sigrid Ansorg. 2018 bezog der JMD seine neuen Räumlichkeiten am Coburger Platz in Gotha. Große Veränderungen brachte die erhöhte Zuwanderung von Geflüchteten ab 2015. Sigrid Ansorg übernahm jetzt hauptsächlich die Beratung junger Menschen. Für acht Monate leitete sie neben der JMD-Arbeit ein Asylbewerberheim in der Region. Die Zeit sei sehr bereichernd für sie gewesen: „Es gibt immer wieder Situationen, die man so noch nicht hatte und an denen man sich weiterentwickelt.“ Der JMD habe hinsichtlich der veränderten Gesetzeslage mit Anwälten und dem örtlichen Flüchtlingsrat zusammengearbeitet und ein großes Netzwerk aufgebaut.
Schöne und schreckliche Erfahrungen
Mit der aufsuchenden Arbeit hat Sigrid Ansorg immer weiter gemacht und Jugendliche in allen Lebenslagen unterstützt – auch in den schwierigsten. Eine traumatisierte junge Schwangere begleitete sie bei ihrem Kaiserschnitt, sie besuchte junge Leute, die straffällig geworden waren, im Gefängnis. Als von ihr betreute Jugendliche, deren Vater alkoholabhängig war, bei ihr anriefen und sie baten, zu kommen, fand sie den Vater tot in der Wohnung auf. „Wir haben alles erlebt“, sagt Sigrid Ansorg. „Leben, Sterben und Trauma – aber auch viele schöne Momente.“ Sie freue es besonders, wenn junge Menschen es schafften, schulisch und beruflich ihren Weg zu gehen. Eine sehr emotionale Erfahrung sei für sie auch der Familiennachzug gewesen. Junge Geflüchtete, die Sigrid Ansorg zum Bahnhof begleitete, trafen dort nach langer Zeit ihre Eltern wieder.
Aus der Jugendarbeit des JMD in Gotha sind über die Jahre zahlreiche Projekte entstanden – einige bestehen bis heute fort. Dazu zählt zum Beispiel der Chor „Kalinka“. Die Mitglieder sind mittlerweile erwachsen, treffen sich eigenständig und brauchen nur einen Raum, den der JMD ihnen zur Verfügung stellt. Bis 2020 fand ein erfolgreiches Boxprojekt statt, an dem junge Geflüchtete teilnahmen. Geleitet wurde das Training auch von Jugendlichen, die sich mit dem Konzept selbstständig machen konnten. Durch die Corona-Pandemie musste das Projekt leider pausiert werden. Um Jugendliche bei ihrem schulischen und beruflichen Werdegang zu unterstützen, bietet der JMD auch Nachhilfeunterricht und Bewerbungstraining an.
Modellprojekt „JMD im Quartier“ als Türöffner
Auch „Jugendmigrationsdienst im Quartier“, ein Modellprojekt, das der JMD im Stadtteil Gotha-West seit 2018 umsetzt, musste durch die Corona-Pandemie neue Wege suchen, junge Menschen zu erreichen. Die Projektleitung liegt bei Kathrin Ansorg. „Bei JMD im Quartier geht es vorrangig darum, in Zusammenarbeit zu kommen mit Netzwerkpartnern, Vertretern und Organisationen, die bereits im Stadtteil tätig sind, und nachhaltige Strukturen zu schaffen, die das Leben der Menschen verbessern“, sagt die Diplom-Sozialpädagogin. Essenziell sei dabei, die Einwohnerinnen und Einwohner des Stadtteils zu beteiligen. „Ich versuche alle meine Projekte nachhaltig zu konzipieren, dadurch, dass Jugendliche und junge Menschen schon bei der Projektentstehung mit dabei sind.“
Ein solch nachhaltiges Projekt ist das 2020 ins Leben gerufene Nähcafé, für das der JMD Multiplikatorinnen und Multiplikatoren ausgebildet hat. Die Jugendlichen trafen sich zunächst einmal pro Woche und lernten den Umgang mit der Nähmaschine. Wer auch nähen lernen wollte, konnte dazukommen und wurde wiederum von den Jugendlichen angeleitet. Eine weitere Aktion von JMD im Quartier, die 2020 trotz Corona unter freiem Himmel stattfand, war das internationale Familiensportfest. Jugendliche mit Migrationshintergrund bereiteten für die Familien im Quartier verschiedene Stationen mit sportlichen Herausforderungen vor. Viele zeigten hinterher Interesse an weiteren Aktionen des JMD. „Da entstehen Beziehungen und man muss dranbleiben“, sagt sie. Manche Jugendliche würden in ihrer Kompetenz so gestärkt, dass sie als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren bei anderen Vereinen oder Trägern aktiv werden – etwa über einen Bundesfreiwilligendienst. „Das Ankommen im Stadtteil über unsere Projekte kann ein Türöffner sein.“
Im Kontakt bleiben trotz Corona: Hürden und Erfolge
Wichtig für erfolgreiche Quartiersarbeit mit jungen Menschen sei Beziehungsarbeit, sagt Kathrin Ansorg. Während der Corona-Pandemie ist das eine große Herausforderung. „Die Kollegen und Kolleginnen vom JMD verteilen Termine und bieten E-Mail-Beratung an“, berichtet sie. „Bei mir ist es etwas anders, da der direkte Kontakt in Gruppen nicht möglich ist. Man muss auf Online-Formate zurückgreifen.“ Funktioniert hat das zum Beispiel bei einer Bastelaktion im Advent 2020. Familien aus dem Quartier holten sich beim JMD im Quartier Material ab und bekamen von Jugendlichen über Facebook die Bastel-Anleitung. Aktuell wird eine Online-Veranstaltung zum Thema „Jugendgerechte Stadt“ angeboten. „Da der Stadtteil überschaubar ist, bleiben wir mit den Menschen, mit denen wir regelmäßig arbeiten, trotz Corona in gutem Kontakt, weil man sich im Viertel oft über den Weg läuft“, sagt Kathrin Ansorg.
Mutter und Tochter im JMD: „Wir schwingen auf einer Welle“
Sorge bereiten Kathrin und Sigrid Ansorg rassistische und rechte Tendenzen in der Gesellschaft. „Wir müssen junge Menschen stark machen, damit sie sich dem erhobenen Hauptes entgegenstellen können“, sagt Kathrin Ansorg. „Auch wir als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen laut werden und sagen: Das geht so nicht.“ Für die Zukunft sollen junge Migrantinnen und Migranten in Gotha-West über die Gründung eines Jugendmigrationsbeirats im Quartier mehr Gehör erhalten.
Für Sigrid Ansorg ist die aktive Zeit der Jugendsozialarbeit nun zu Ende gegangen. Die letzten Jahre arbeitete sie mit ihrer Tochter zusammen, sie teilten sich ein Büro. „Ich bin stolz auf meine Tochter.“ Kathrin Ansorg sei ein Mensch, der Herausforderungen liebe, engagiert und auch kritisch sei. Die Suche nach einer neuen Herausforderung war damals Kathrin Ansorgs Motivation, in die Arbeit mit Geflüchteten zu gehen und sich später beim JMD in Gotha zu bewerben. Auch die Arbeit ihrer Mutter habe sie bei dieser Entscheidung beeinflusst. „Meine Mutter war in Gotha wirklich eine Instanz.“
Sigrid Ansorg meint, wahrscheinlich liege ihr die soziale Arbeit mit jungen Migranten und Migrantinnen in den Genen. Schon in ihrem Elternhaus sei die Tür immer offen gewesen für junge Menschen egal welcher Herkunft. „Es geht darum, Menschen zu unterstützen, die Hilfe brauchen“, sagt sie. Die Herausforderungen hat sie dabei wie ihre Tochter immer gesucht: „Wir schwingen da auf einer Welle.“ Auch für ihren Ruhestand hat Sigrid Ansorg schon eine neue Herausforderung gefunden. Zum Abschied bekam sie von ihrem Team einen Onlinesprachkurs für Arabisch geschenkt, den sie nun besucht. Kontakte zu Menschen, die sie über den JMD kennengelernt hat, bestehen fort – heute treffen sie sich nicht mehr zur Beratung, sondern zum freundschaftlichen Austausch. Sigrid Ansorg hat vier Kinder, acht Enkelkinder und ein Urenkelkind. Sie freut sich, jetzt auch mehr Zeit für ihre Familie zu haben.
Text: Servicebüro Jugendmigrationsdienste