Erst Klientin, dann Kollegin – so geht Integration!

zwei Frauen,Ayça Okçu-Seçer und Ginan Al Hussein, stehen vor einem Haus
Ayça Okçu-Seçer (l.) und Ginan Al Hussein (r.) sind mittlerweile Kolleginnen im JMD Solingen© Servicebüro Jugenmigrationsdienst

Jugendmigrationsdienst Solingen: Wir sitzen im Konferenzraum im ersten Stock. Sonnengelb gestrichene Wände, hohe Decken und eine freundliche Atmosphäre. „Was ich an Deutschland besonders mag ...“ Ginan Al Hussein lässt sich Zeit mit der Antwort. Sie überlegt. Wenn sie überlegt, dann kippt sie ihren Kopf ein bisschen zur Seite und rollt die Augen Richtung Zimmerdecke. Aber dann schaut sie bei diesem Interviewtermin schon wieder stracks nach vorne. „Ich weiß!“ Sie lächelt strahlend. „Also erstens: Keiner mischt sich in mein Leben ein – ganz anders als in Syrien, wo fremde Meinungen oft eine größere Rolle spielen.“

Flucht nach Deutschland und erste Schritte in Solingen

Ein Rückblick. 2014 flüchtet die 20-jährige Ginan mit ihren Eltern und Brüdern nach Deutschland. 2015 nimmt sie auf Anraten des Jobcenters das erste Mal Kontakt zum JMD Solingen auf und heute, sieben Jahre später, sitzt sie wie selbstverständlich in diesem sonnengelb-leuchtenden Konferenzraum neben ihrer langjährigen Beraterin und jetzigen Arbeitskollegin Ayça Okçu-Seçer. Aber noch mal von Anfang an: Damals, im April 2015 also, betritt Ginan zum ersten Mal die hellen Räumlichkeiten des JMD-Hauses Am Neumarkt 50a – den Altbau mit den knarzenden Böden, der schon vielen jungen Menschen mit Migrationshintergrund bei ihren ersten Schritten in Deutschland Halt unter den Füßen gegeben hat. Die ersten Schritte in Deutschland, das heißt viele Anträge stellen und viele Dokumente ausfüllen. Ginans jüngsten Bruder Hassan, damals 15 Jahre alt, kann Ayça Okçu-Seçer, Sozialberaterin beim Jugendmigrationsdienst, in einer Schule anmelden helfen. Ginan und ihr älterer Bruder sind dafür bereits zu alt. Sie beginnen beim Träger des JMD Solingen, dem Internationalen Bund, ihre Deutschkurse. B1, B2 und schließlich sogar C1.

Übung macht die Meisterin

Ginan sei von Anfang an unheimlich fleißig gewesen und habe sich nicht einschüchtern lassen, wenn Ayça Okçu-Seçer mal einen Satz von ihr korrigiert hat. Ganz im Gegenteil. „Sie merkt sich das. Und das nächste Mal sehe ich, dass sie diesen Satz perfekt sagt. Das ist die Motivation, die sie mitbringt. Und die Motivation braucht man eben.“ Die beiden Frauen lächeln sich an, sie verstehen sich.

Frau Ayça Okçu-Seçer sitz am Schreibtisch vor einem Computer.
Seit über sechs Jahren arbeitet Ayça Okçu-Seçer beim IB Solingen und stärkt junge Menschen in ihrer Beratung.© Servicebüro Jugendmigrationsdienste

Beratung und Begleitung in allen Lebenslagen

Damals treffen sich Ginan, die Klientin, und Ayça, die Beraterin, mindestens einmal die Woche in Okçu-Seçers Büro. „Sie ist wie eine Mutter für mich, nur im Büro“, erzählt Al Hussein mit fliegenden Händen und strahlendem Lächeln. „Wenn ich in der Beratung bin und was Schlimmes erzähle oder hoffnungslos bin vor einer Sache, dann hat sie eine Methode, dass sie mir die positiven Seiten zeigt und sie verkleinert meine Probleme.“ Noch einmal dieses befreite Lachen bei Ginan Al Hussein und ein stilles Lächeln bei Ayça Okçu-Seçer. Für sie ist strukturiertes Vorgehen das A und O in der Beratung. „Ich glaube, dass die Jugendlichen sich manchmal sehr große Ziele setzen. Und diese kann man in kleinere Schritte aufteilen.“

Ihre Beratung öffne Perspektiven, glaubt Okçu-Seçer: „Wenn ein Lebenslauf geschrieben werden soll, dann schreibt Ginan ihren Lebenslauf und ich korrigiere. Oder Bewerbungen, wir schreiben das zusammen, sie formuliert ihren Satz, ich schreibe ihn ein bisschen um, aber der Inhalt ist der selbe.“ So fühlten sich die jungen Menschen in ihrer Beratung gestärkt und sehen: Ach, ich kann das doch! „Wenn man sieht, man schafft das, dann fühlt man sich in der neuen Heimat viel besser.“ Okçu-Seçer ist im siebten Jahr beim IB Solingen als Sozialberaterin tätig und betreut bis zu 100 junge Menschen gleichzeitig. Sie ist eine von insgesamt vier Beraterinnen an dem JMD-Standort.

Von der Klientin zur Kollegin

Die Begleitung durch den JMD während der Zeit der Sprachkurse, das ist das eine. Immer wieder Mut zu machen beim Schreiben von Bewerbungen, vor Vorstellungsgesprächen und nach Absagen durch potenzielle Arbeitgeber, das ist das andere. Damit Ginan die Zeit damals sinnvoll nutzen kann, schlägt Okçu-Seçer ihr vor, ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im Büro des JMD zu machen. Die junge Frau mit dem strahlenden Lächeln und ihrer herzlichen Art ist eine Bereicherung für das Team. Und sie sorgt dafür, dass neben Englisch, Türkisch, Italienisch, Französisch und Spanisch jetzt auch Arabisch als Sprache im JMD Solingen vertreten ist. An ihrem Arbeitsplatz, dem Empfang, bereitet Ginan darüber hinaus allen Hereinkommenden das Willkommensgefühl, das Hilfesuchende brauchen.

Frau Ginan Al Hussein sitzt am Schreibtisch.
Mit ihrer herzlichen Art bereichert Ginan Al Hussein das Team des IB in Solingen. 2015 kam sie zum ersten Mal als Ratsuchende zum JMD.© Servicebüro Jugendmigrationsdienste

Absagen und neue Chancen

Nebenbei schreibt sie Bewerbungen in alle Richtungen – weiterhin ohne Erfolg. Schließlich wandelt Betriebsstättenleiter Micha Thom, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen in der Verwaltung des IB Solingen, Anfang dieses Jahres das FSJ in eine sogenannte EQ um. EQ steht für Einstiegsqualifizierung und ist eine berufsvorbereitende Maßnahme der Bundesagentur für Arbeit. Eine Art Vorläufer für eine Lehrstelle. Ginan darf im Rahmen ihrer EQ zur Kauffrau für Büromanagement sogar zweimal die Woche zur Berufsschule gehen – wie eine richtige Auszubildende. Eine Ehre und Riesenchance, sagt sie.

Wieder zurück in den Konferenzraum des JMD. „Was ich an Deutschland besonders mag? Erstens: Keiner mischt sich in mein Leben ein. Und zweitens: Jeder von uns kann alles machen. Deine Chancen sind in Deutschland größer als in Syrien.“ Ihre Augen strahlen. Ginan Al Hussein ist angekommen. Sieben Jahre nach ihren ersten Schritten in Deutschland wird die einstige Neuangekommene, die langjährige Klientin, die ehemalige FSJ-lerin und noch EQ-lerin Ginan Al Hussein ihre Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement beginnen – genau dort, wo einst ihre Beratung begann. 

Text: Servicebüro Jugendmigrationsdienste